Hohentrüdingen

Geschichte und Geschichten eines Dorfes

Über den Flurer

Gemeindediener
Ein Gemeindediener

In manchen Dörfern unserer Heimat im Hahnenkamm war bis in die jüngste Zeit herein für den Gemeindediener die Bezeichnung Flurer oder Flur gebräuchlich. Dieser ursprüngliche Name für den Inhaber eines wichtigen Amtes der alten Dorfgemeinde läßt uns in eine Zeit zurückblicken, in der die wesentlichen Aufgaben des Gemeindedieners nicht wie heutzutage im Dorf selbst - etwa als Bote des Bürgermeisters - sondern draußen in der freien Flur, im Feld, auf Wiesen und Weiden, oft auch im Wald lagen. Im Bewußtsein, sogar der ältesten Dorfbewohner, ist freilich die Erinnerung an diesen Dienst in Feld und Flur nur noch wie ein ferner Schall geblieben.

In alten, vergilbten Dorfordnungen findet sich für den Flurer noch bisweilen auch die Bezeichnung Flurhey. Das mittelhochdeutsche Tätigkeitswort heilen bedeutet "pflegen, pflanzen, aufziehen, hegen, schützen." Es ist auch in unserer Heimat einmal in Gebrauch gewesen. Eine Hechlinger Waldordnung aus dem Jahre 1562 spricht von "Hölzern in der Hey". Sie meint damit die jungen Schläge des abgeholzten, gemeindeeigenen Laubwaldes aus dessen Stockaustrieben man das Brenn- und Zäunholz gewann und die in der Regel "bis ins fünfte Laub" (fünf Jahre) geheyt, das heißt gehegt und geschützt wurden. Es war verboten, in diesen Hölzern "in der Hey" zu grasen oder sie zu beweiden, damit die jungen Triebe sich gut aus dem Stock entwickeln konnten.

Da dieses Wort heyen auch den Sinn von "schützen" hatte, wird verständlich, daß statt der Bezeichnung Flurhey auch oft Dorfordnungen vom Flurschützen die Rede ist. Ein Flurschütz ist aber nicht etwa ein Schütze, der mit einer Flinte oder Pistole durch das Feld schreitet und durch Schreckschüsse die Vögel verjagt, wie das in Weinanbaugebieten der Fall war, sondern eine von der Gemeinde beauftragte Person, die die Ordnung in Feld und Flur zu hüten, zu schützen hatte. Da der Flurer in der Regel für die gesamte Gemeinde arbeitete, ihr diente und von ihr auch besoldet wurde, erhielt er mancherorts den ehrenvollen Namen "der Gemeinde Knecht".

Vom Flurzwang

Nur erhebt sich freilich die Frage: Welche Ordnung draußen in der freien Flur galt es denn da zu überwachen? Hat sich denn diese Ordnung in Feld und Flur nicht von selbst ergeben? Mit der Flurbereinigung nach dem Zweiten Weltkrieg ist der endgültige Durchbruch zur goldenen Freiheit für die bäuerliche Arbeit auf dem Feld erfolgt, die letzte Gebundenheit an altüberlieferte Wirtschaftsweisen gefallen. Ein wohlausgebautes Wegenetz ermöglicht jedem Landwirt freien Zugang zu seinen großräumigen Grundstücken; keiner braucht mehr über Acker und Wiesen des Nachbarn zu fahren. Jeder kann auf seinen Feldern anbauen, wann und was er will. Jeder kann säen und ernten, wann er es für richtig hält. Keiner muß mehr Rücksicht auf eine in der Flur herumziehende Herde nahmen, denn es gibt sie längst nicht mehr.

Wie anders dagegen im Mittelalter! Die Arbeit des einzelnen Bauern war in ein Netz von Abhängigkeiten und Rücksichtnahmen verstrickt, aus dem jahrhundertelang nicht mehr ausgebrochen werden konnte. Dem modernen Landwirt fällt es schwer, sich in die strengen Wirtschaftsweisen von einst zu versetzen. Eine wohldurchdachte Flurordnung wurde oft zum beengenden Flurzwang. Wie kam es dazu? Das Leben des mittelalterlichen Dorfes beruhte auf zwei entscheidenden Grundlagen: auf dem Gedeihen der Saatfelder und dem Wohlbefinden der Viehherden. Auf den Saatfeldern reifte, stets begleitet von Sorgen, Bangen und Gebeten der Bauern, das tägliche Brot hing des Leben der Familie. Man ging behutsam und maßvoll mit ihm um. Manche Leute aus kinderreichen Familien erinnern sich vielleicht noch, wie die Mutter den Laib Brot in der Schublade einschloß und ihn nur zu den täglichen Mahlzeiten herausnahm, damit er nicht von den hungrigen Kindern außerhalb der Essenszeiten erreicht werden konnte. Brot wurde noch als die von Gott den Menschen geschenkte Gnadengabe empfunden. Darum hüteten unsere Vorfahren die Saatfelder wie ein Heiligtum. Mit den reifen Ähren verfuhr man während der Erntearbeit äußerst behutsam. Die Getreidefelder waren ja im Mittelalter durch Mißwachs, Pilzkrankheiten, Ungeziefer, Unkraut- und Mäuseplage viel mehr gefährdet als heutzutage. Die geringen Erträge erforderten einen sorgsamen, heute fast pedantisch anmutenden Umgang mit den Garben. Auf den abgeernteten und zusammengerechten Feldern klaubten im Spätsommer die Kinder noch die letzten Überbleibsel zusammen. Das Bild der Ährenleserinnen hing noch zu unserer Jugendzeit in vielen Bauernstuben, umweht von einem feierlichen Hauch, wie ein geheiligter Gegenstand aus einem Herrgottswinkel. Schon die junge Saat bedurfte in alter Zeit einer sorgsamen Pflege. Über ein Saatfeld zu fahren oder zu reiten, galt fast als ein Verbrechen, das im Ruggerricht bestraft wurde. Das lästige Unkraut - heute fast eine Seltenheit -, das dazumal nicht durch Spritzmittel beseitigt werden konnte, mußte gejätet werden; man verwendete es als Viehfutter. "Krauten" nannte man diese Tätigkeit und es stand nicht im Belieben jedes einzelnen, sondern war an feste Termine gebunden und in die Flurordnung einbezogen. Da war die eine Lebensgrundlage unserer Vorfahren, das Sommer- und Wintergetreide, die Quelle des täglichen Brotes. Es mußte in der Dorfflur alljährlich seinen festen Platz haben und durfte nicht gefährdet werden.

Die andere Lebensgrundlage des mittelalterlichen Dorfes bildete das Vieh, das Milch und Fleisch, Wolle und Häute für die Kleidung und Schuhe lieferte. Seine Unterhaltung erfolgte nicht wie heutzutage durch Fütterung im Stall, sondern, so lange als es die Witterung zuließ, durch den Weidegang. Rinder, Schafe und Schweine wurden aber nicht vor jedem einzelnen Bauern auf seinem eigenen Grund und Boden geweidet. Das hätte eine Gefährdung der Saatfelder bedeutet und zur Unordnung in der Flur geführt. Nein, man vereinigte das Vieh des Dorfes unter einem gemeinsamen Hirten und Schäfer und ließ es sich draußen in Wald und Flur sein Futter selbst suchen. So standen in der Gemarkung zwei lebensnotwendige Dinge nebeneinander: die an einen festen Standort gebundenen Getreidefelder und die beweglichen Herden. Die Beweglichkeit der Herden war eine Notwendigkeit, denn wenn Weideplätze abgegrast waren, mußten neue aufgesucht werden. Aber gerade von diesem Hin- und Herziehen der Herden gingen Zwänge aus, die setzten Endes zur Dreifelderwirtschaft und zum Flurzwang führen mußten. Hätte jeder Bauer sein Sommer- und Wintergetreide in voller Freiheit wie heutzutage angebaut, so wären damit unendliche Konflikte heraufbeschworen worden, denn die Herden mußten, da die Weidegründe in Wald und Wiesen nicht ausreichten, auch noch am unbebauten Ackerland, an der Brache, beteiligt werden. So ging man schon früh, nicht etwa aufgrund sozialer und rationaler Planung, sondern nach vielfacher Erfahrung dazu über, Sommer- und Wintergetreide gemeinsam in einer besonderen Abteilung der Ackerflur anzubauen.

Im Hahnenkamm hat sich dafür die Bezeichnung Sommerfeld und Winterfeld eingebürgert. Die einzelnen Felder wurden in eine der Zahl der Bauern entsprechende Menge schmaler, aber langer Streifen eingeteilt und jedem sein Grundstück zugewiesen, das oft nicht einmal durch einen Feldrain getrennt, sondern nur versteint war. Das nahe Zusammenrücken der einzelnen Äcker im Winter- und Sommerfeld bedeutete notwendigerweise für die Besitzer eine Einigung in ihrer freien Arbeitsweise. Jeder konnte nicht mehr ernten, wann er wollte, sondern mußte auf seine Nachbarn Rücksicht nehmen. Saat und Ernte sollten möglichst gleichzeitig beginnen. Ein Zwang zur Einordnung in eine gemeinschaftliche Arbeitsform wurde dadurch ausgeführt. Andererseits erleichterte diese Anbauweise in der Dreifelderwirtschaft in Sommerfeld, Winterfeld und Brache den Schutz der Saaten vor den streifenden Herden. Nun brauchte nicht mehr jeder einzelne Bauer sein Feld einzäunen: es genügte ein gemeinsamer Zaun an den Triebwegen und gegen das Brachfeld. Die Brache - so genannt, weil ab dem Johannistag (24. Juni) dieses Feld mit dem Pflug umgebrochen und zur Wintersaat umgebrochen werden konnte - umfaßte etwa ein Drittel der angebauten Ackerfläche. Diese Dreiteilung des Ackerlandes in Sommerfeld, Winterfeld und Brache entstand nicht etwa aus einer vernunftmäßigen Planung unter Berücksichtigung des Gleichheitsgedankens, sondern aus einer langjährigen praktischen Erfahrung. Da dem Boden durch die alljährlich Ernte eine Menge von Nährstoffen entzogen wurde, infolge mangelhafter Düngung aber nicht wieder zugeführt werden konnte, mußte er ein Jahr lang "ausruhen" und in der Brache liegen bleiben. Auch wenn jemand versuchte, Feldfrüchte auf dem Brachland anzubauen - er geriet damit in Konflikt mit der Gemeinde - und die Hirten durften sie ohne Erlaubnis abweiden. Aus der Dreifelderwirtschaft und der Rücksichtnahme auf die beweglichen Herden entstand eine Fülle von Zwängen, die eine freie persönliche Wirtschaftsweise der Bauern verhinderte. Sollten hier nicht ständig Konflikte und Verdrießlichkeiten entstehen, so war eine Flurordnung notwendig, in die sich der einzelne fügen mußte. Die Gemeinde bestellte zur Überwachung dieser Ordnung einen Feldpolizisten, den Flurer. Er mußte diese Ordnung überwachen und denjenigen, der gegen sie verstieß, der einen Frevel begann, vor das Ruggericht bringen.