Aus vergangenen Tagen

von Martin Winter

Mein Lebenslauf

Die Zeit der schweren Not nach dem ersten Weltkrieg (1914 -1918)

Diese Not während und nach dem Ersten Weltkrieg ist mir als Kind nicht recht bewusst geworden. Ich hörte nur das Jammern und Wehklagen meiner Mutter, wenn sie mit anderen Menschen sprach, die auch ihre großen Sorgen hatten. Erlebnisse aus dieser Zeit sind mir aber noch in Erinnerung. 1917 wachte ich eines Nachts auf. Der Himmel war feuerrot. Mein Vater lebte noch, aber er war schon schwer krank. Da stand unser Nachbarhaus, ein Brauhaus der Brauerei Rudelsberger in Rohr, in hellen Flammen. Es war schaurig anzusehen. Geschrei und Weinen hörte ich. Das Brauhaus brannte vollständig nieder. Die Ursache des Feuers soll gedörrtes Malz gewesen sein. Als Brauhaus wurde es nicht mehr aufgebaut, sondern als Wohnhaus. Später hat sich in dem Haus die Bäckerei Brunner niedergelassen, wo ich oft, weil ein Kramladen dabei war, Bismarckheringe holen musste.

Es herrschte bei Kriegsende 1918 ein gewaltiger Hass auf die Franzosen. Da wir den Krieg verloren hatten, besetzten die Franzosen das Land am Rhein (mit den Engländern und Amerikanern). Wir dachten alle, die Franzosen kämen auch in unsere Gegend. So weiß ich noch, dass ein Mann mit Schwarzpulver Stöcke sprengte. Schwarzpulver konnte man damals kaufen und jedes Mal, wenn es krachte, rief der Mann: „Die Franzosen kommen“, was wir Buben auch glaubten und uns mit großer Angst erfüllte.

Das Schlimmste seit dem Jahre 1917 war der Hunger. Wir waren, was die Versorgung der Zivilbevölkerung anbelangt, auf einen langen Weltkrieg nicht vorbereitet und so gingen schon 1917 die Lebensmittel aus. Man lebte vorwiegend von Scherrüben und Kartoffeln. Die Gendarmerie, so nannte man damals in Bayern die Polizei, kam öfters ins Haus und kontrollierte, ob alle Lebensmittel abgeliefert wurden. Jeder versteckte natürlich sein Getreide, wo er konnte. Auch meine Mutter, die seit dem 17. Oktober beim Tode meines Vaters Witwe geworden war, versteckte das letzte Säcklein Getreide, aber zum Glück kam der Gendarm nicht dahinter.

Einmal, als wir wieder nichts zu essen hatten, kniete sich meine Mutter auf den Acker hin, faltete die Hände, sah zum Himmel empor und betete unter Tränen um Brot für ihre Kinder. Als sie vom Felde heimkam, stand die Frau Senior Küfner, unsere Nachbarin (wir wohnten neben dem Pfarrhaus) da und brachte uns Brot. Bei ihrer Beerdigung 1937 predigten diese Not und diese Szene der Pfarrer. Wir können selbst nach der Not des Zweiten Weltkrieges nicht erahnen, welche Hungersnot nach dem Ersten Weltkrieg herrschte. Es muss fürchterlich gewesen sein. Die Städter kamen mit der Bahn, mit dem leeren Rucksack in das Dorf, um etwas zu ergattern. Man nannte sie Hamsterer. Manchem Bauern wurden nachts die Schweine aus dem Stall gestohlen. Die Nürnberger kamen aus ihrer Stadt und überfielen die Kartoffelfelder, die Bauern wehrten sie durch Schreckschüsse mit dem Infanteriegewehr ab. Gewehre wurden vielfach von den heimkehrenden Soldaten versteckt, sie dienten später, als die schlimmste Not vorbei war, zum Hochzeitanschießen und 1932 zur heimlichen Ausrüstung der SA Leute. Nicht nur die Lebensmittel waren durch den Krieg furchtbar knapp geworden, sondern auch alle Produkte. Man muss bedenken, dass die Produktion auf Krieg eingestellt war und lange nicht so massenhaft erzeugen konnte wie heutzutage. Die Landwirtschaft war noch nicht mechanisiert, die Ernte vielfach den Unbilden der Natur ausgeliefert.